Stress: ja, bitte!

Die Hände umkrampfen den Sicherheitsbügel. Meter für Meter klettert der Wagon die Achterbahn hinauf – bis er zuoberst stoppt und den Blick auf die volle Fallhöhe freigibt. Das Herz pocht, die Zunge ist trocken, das Gehirn realisiert: Es gibt kein Zurück. Die Kontrolle ist verloren. Der Blutdruck ist hoch, die Muskulatur unter Hochspannung; der Körper erlebt Stress pur. Dann: ein Schrei, aussetzende Atmung, Saltos im Magen – der Wagon rattert in die Tiefe. Einige Minuten später das Aufatmen. Die Strapazen sind vorüber. Im Körper verbreitet sich Wohlgefühl, gar Euphorie.
Stress ist eine natürliche Reaktion auf eine Gefahr. Der Körper wird aktiviert, damit wir fliehen oder angreifen können. Stress macht uns wach, schnell und effizient. Er sorgt dafür, dass wir über uns hinauswachsen. Nach Stressreaktionen werden Glückshormone ausgeschüttet, die Belohnung vom Gehirn für die einst lebensrettende Stressreaktion. Die meisten natürlichen Gefahren, denen unsere Vorfahren dank Stress mehr oder minder trotzten, haben wir heute gebändigt. Auf das belohnende Wonnegefühl und die Entspannung nach dem Stress wollen wir aber nicht verzichten: Wir suchen sie beim Fussballmatch, im Krimi, im Horrorfilm. Auf dem Rummelplatz oder beim Bungee-Jumping kaufen wir Gefahr, ohne dass uns etwas zustösst. Beim Sport setzen wir unseren Körper unter physischen Stress, in der Sauna unter Hitzestress, an der Technoparty unter Lärmstress. Solchen Kurzzeitstress mögen wir nicht grundlos – er tut uns gut.
Mit Stress gegen Stress?
Kurzzeitstress stärkt das Immunsystem, bringt den Kreislauf auf Trab, macht uns fit und glücklich. „Kurzzeitiger Stress hat, abgesehen von traumatischen Erlebnissen, fast nie einen negativen Einfluss auf Gemüt und Körper“, schreibt der Wissenschaftsjournalist Urs Willmann. „Was dagegen lange anhält, birgt Gefahren – weil die Stressreaktion nur für den Kurzzeitgebrauch gedacht ist.“ Häufiger, langanhaltender Stress überfordert den Organismus. Ist das Gehirn ständig im Alarmzustand, fehlt Ruhezeit. Das kann krank machen. Urs Willmann plädiert dafür, diesen negativen Stress mit positivem, kurzzeitigem Stress zu bekämpfen. Kurzzeitstress lasse uns gesunden, helfe gegen Ausbrennen. Stresserlebnisse wie der Thriller im Kino oder das Auspowern auf der Laufstrecke helfen, aus dem Langzeitstress herauszukommen, angestaute Energie abzubauen, den Kopf freizubekommen. Eine intensive Stressreaktion ermöglicht im Anschluss maximale Entspannung. Unter Stress schüttet der Körper Oxytocin aus, ein Hormon, das Entzündungen hemmt, Wunden heilt und den vom hektischen Leben beanspruchten Herzzellen hilft, sich zu regenerieren.
Eine Kopfsache
Wie wir Stress ertragen, hängt wesentlich davon ab, wie wir ihn beurteilen. Wir können seine Vorteile nutzen und gesundheitsgefährdende Nachteile verhindern. Ein Experiment der Harvard University veranschaulicht dies eindrücklich: Studienteilnehmer mussten vor einem betont gleichgültigen Publikum über die eigenen Schwächen referieren und danach Rechenaufgaben lösen. Einem Teil der Studienteilnehmer erklärten die Forscher, dass der Stress ihnen helfe: Beschleunigten Puls, Schwitzen oder Atemstocker sollten sie nicht als Angst deuten, sondern als Zeichen dafür, dass der Körper voll mit Energie sei. Diese Studienteilnehmer waren selbstsicherer und fühlten sich weniger gestresst als jene, denen man nichts gesagt hatte – obwohl beide objektiv messbar gestresst waren. Normalerweise schlägt das Herz bei einer Stressreaktion schneller und es verengen sich die Blutgefässe. Daher kann chronischer Stress das Herz angreifen. Die Studienteilnehmer, die den Stress positiv bewerteten, zeigten zwar die erhöhte Herzfrequenz, aber die Adern zogen sich nicht zusammen. Damit nutzten sie alle Vorteile von Stress, verhinderten aber die gesundheitsgefährdenden Nachteile. Schauen wir also auf das Gute, das Stress uns bieten kann, hilft uns das, besser mit Stress umzugehen.

