Musik hält das Gehirn auf Trab

Die ersten Töne von Mungo Jerry’s «In the summertime» erklingen. Anita Kunz dreht das Radio auf. Wenn sie dieses Lied hört, ist sie wieder neunzehn. Vor ihrem inneren Auge tauchen Bilder aus dem Sommer 1970 auf: die Allee auf dem Weg zur Schule, die Gesichter ihrer damaligen Freunde – sie meint sogar, das Wasser unten am See zu riechen.
Musik weckt Emotionen und Erinnerungen. Musik kann aber noch viel mehr: Wie kaum eine andere Tätigkeit beanspruchen Musizieren und Musik hören das ganze Gehirn in Anspruch. Einige Menschen glauben gar: Musik macht schlau.
Der Mozart-Effekt: ein Mythos
Eltern und Mozart-Fans jubilierten, als die amerikanischen Forscher Gordon Shaw und Frances Rauscher 1993 verkündeten: Mozart hören steigert das räumliche Vorstellungsvermögen. Studenten, die vor einem Intelligenztest zum räumlichen Denken Mozarts Musik zu hören bekamen, schnitten im Test besser ab als ihre Kollegen, die sich in Stille vorbereiteten. Die Botschaft, dass Musik hören intelligent mache und das Lernen vereinfache, fand in der breiten Bevölkerung grossen Anklang. Eifrig wurde weiter geforscht und festgestellt: Auch Schubert, Bach oder Heavy Metal erzielen ähnliche Effekte.
Heute weiss man: Nicht Mozarts Werk bewirkt bessere Leistungen, sondern die Erregung durch einen bevorzugten Musikstil. Wenn Musik unsere Leistung steigert, dann wahrscheinlich, weil wir die gehörte Musik mögen und sie eine positive Stimmung in uns auslöst – wir fühlen und wohl, sind dadurch aufmerksamer und konzentrierter. Genauso gut kann Musik kurzfristig die Leistung schwächen – wenn sie uns nicht gefällt oder vom Lernstoff ablenkt.
Musik ist also kein Wundermittel für leichtes Lernen – auch nicht jene von Wolfgang Amadeus Mozart. Aber Musik hören regt das Gehirn in vielfältiger Weise an. Wie genau, hängt vor allem mit der persönlichen Geschichte ab. Anita Kunz liebt Mungo Jerry’s «In the summertime», Beethovens 29. Klaviersonate lässt sie hingegen kalt. Ganz anders bei ihrem Mann: Hört er dieses Stück, spielt er es innerlich sogar mit – wie er es im Klavierunterricht gelernt hat.
Musizieren verändert die Hirnstruktur
Besonders deutliche Spuren im Gehirn hinterlässt Musik, wenn wir sie selbst spielen. Aktives Musizieren verändert die Hirnstruktur: Bereits die erste Klavier- oder Flötenstunde führt zu Vernetzungen der motorischen und der Hörzentren im Gehirn. Je öfter eine Person musiziert, desto ausgeprägter sind die anatomischen Veränderungen im Gehirn. Häufig nimmt die Dichte der grauen Substanz, also die Dichte an Nervenzellen, zu. Die verschiedenen Gehirnregionen, die für hören, bewegen, sehen und planen zuständig sind, werden durch regelmässiges Musizieren besser vernetzt.
Bei Berufsmusikern sind die Veränderungen noch ausgeprägter: Bei ihnen ist die Verbindung zwischen beiden Hirnhälften dicker, und neben grösseren Hör- und Bewegungszentren weisen sie auch grössere Koordinationszentren im Kleinhirn sowie grössere Sprachzentren in der linken Hirnregion auf als Nichtmusiker. Teilweise können Forscher anhand der Hirnstruktur von Profimusikern gar erraten, welches Instrument sie spielen: bei Pianisten sind beispielsweise die Hirnregionen grösser, welche die Finger steuern, bei Geigern ist die motorische Handregion in der rechten Hirnhälfte grösser – verantwortlich für die Feinmotorik der linken Hand.
Der Zürcher Neurologe Lutz Jäncke bezeichnet die Spuren, die Musik im Gehirn hinterlässt, als herausragendes Beispiel für die Plastizität, sprich der Formbarkeit des Gehirns. Neuere Studien beschäftigen sich daher mit den Therapiemöglichkeiten, die Musik bietet. So hat sich beispielsweise gezeigt, dass Schlaganfallpatienten mit Hilfe von Musiktherapie schneller ihr Bewegungsvermögen wieder erlangen als ohne.
Gutes Hirntraining
Musizieren trainiert eine Reihe von Fähigkeiten, die auch im Alltag nützen – darunter Feinmotorik, Koordination, Gedächtnis oder Einfühlungsvermögen. Aktives Musizieren schult die Wahrnehmung sowie die motorischen Fertigkeiten und erzeugt positive Emotionen: Dank dieser Eigenschaften kann Musik degenerative Prozesse im Gehirn verlangsamen oder sogar umkehren.
Einige Forscher vermuten im Musizieren gar eine «Schutzwirkung» vor Demenz. Menschen, die selbst musizieren, zeigen moderate, aber konstant bessere Leistungen beim Sprach-Gedächtnis und bei visuell-räumlichen Tests. Dies wahrscheinlich, weil sie eine geschulte Hörfähigkeit haben und gewohnt sind, mit Tönen, Klängen und Rythmen umzugehen. Die räumlich-visuellen Fähigkeiten werden beispielsweise durch die Position der Noten auf dem Notenblatt gefördert. Das geschulte Hörsystem hilft gar im Umgang mit Fremdsprachen: Musiker können akustische Eigenarten von Fremdsprachen besser verstehen und aussprechen als Nichtmusiker.
Wer also schon lange davon träumt, ein Instrument zu spielen: Jetzt wäre die perfekte Zeit, damit anzufangen. Es ist definitiv nie zu spät! Wem aber nicht nach selbst musizieren ist: Auch Musik hören stimuliert das Gehirn – es löst mehr als nur Erinnerungstürme aus. Wenn auch in geringerem Ausmass als beim aktiven Musizieren, setzt aufmerksames Musik hören Lernprozesse in Gang, die im Gehirn neue Verbindungen schaffen. Wir können genussvoll zurücklehnen und zuhören, während die Musik unser Gehirn auf Trab hält.

