Bonjour tristesse

Sei nicht so negativ! Grüble nicht zu viel! Du musst nur positiv denken! Wer hin und wieder von der Melancholie erfasst wird, erntet wenig Verständnis in unserer nach Glück strebenden Gesellschaft. Der Psychoanalytiker Sigmund Freud sah in der Schwermut eine kreative Kraft: «Man darf sagen: Der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte», urteilte er in seinem Werk «Der Dichter und das Phantasieren» (1907). Tatsächlich ist die Melancholie ein steter Begleiter in der Literatur. Grosse Dichter wie William Shakespeare, Jean-Jacques Rousseau und Johann Wolfgang von Goethe liessen ihren Hang zur Schwermut in ihren Werken einfliessen.
Für den Philosophen Immanuel Kant zeichnete sich der melancholische Mensch durch besondere geistige Eigenschaften und Neigungen aus: «Der, dessen Gefühl ins Melancholische einschlägt, hat vorzüglich ein Gefühl für das Erhabene. Er duldet keine verworfene Untertänigkeit und atmet Freiheit in einem edlen Busen. Alle Ketten von den vergoldeten an, die man am Hofe trägt, bis zu den schweren Eisen der Galeerensklaven sind ihm abscheulich.» («Betrachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen», 1764).
Die Dysphorie – so der wissenschaftliche Ausdruck für eine Verstimmung – gehört ebenso zum Menschsein wie die Euphorie. Wer hin und wieder zu Schwermut neigt, braucht nicht auch noch ein schlechtes Gewissen zu haben. Das Gefühl von vorübergehender Traurigkeit, von Melancholie und Nachdenklichkeit ist normal. Wir Menschen sind eine launische Spezies. Unsere Stimmung ist höchst anfällig für Störungen und kann manchmal unvermittelt kippen.
Die Dysphorie hat in den vergangenen Jahren das Interesse von Forscherinnen und Forschern verschiedener Fachrichtungen von der Psychologie über die Soziologie bis zur Neurologie geweckt und zu unerwarteten Erkenntnissen geführt. So zeigt eine Studie des australischen Wissenschaftlers Joseph Forgas: Eine negative Stimmung lässt uns zuweilen klarer denken und macht uns sogar sozialer als unerschütterliche Optimisten.
Um zu untersuchen, wie Stimmungen unser Denken beeinflussen, setzte Forgas einen Teil seiner Versuchspersonen traurigen Filmen oder schwermütiger Musik aus. Die anderen Testpersonen kriegten Komödien und fröhliche Musik vorgesetzt. Danach stellte Forgas den Teilnehmern verschiedene Aufgaben.
Optimisten sind häufig unkritisch
Das Ergebnis: Die traurig gestimmten Versuchspersonen zeigten sich geistig flexibler. Das heisst, sie stellten sich besser auf neue Herausforderungen ein und konnten schneller umdenken. Deshalb waren sie kritischer und weniger anfällig für Stereotypen. Die positiv Eingestellten hielten attraktive Menschen eher für intelligenter als unattraktive Menschen und Bio-Lebensmittel für gesünder als Nicht-Bio-Lebensmittel, während das Urteil der traurig gestimmten Personen differenzierter ausfiel.
Man nimmt an, dass negativ eingestellte Menschen sich mehr auf ihre Umwelt konzentrieren. Beschwingte Leute hingegen wenden den Fokus nach innen und werden dadurch egoistischer. Die Konsequenz überrascht: Eine negative Gemütsverfassung macht uns also letztlich sozial verträglicher, das heisst aufmerksamer. «Negative emotionale Affekte erhöhen die Sorge um andere», schreibt Joseph Forgas. Das kommt den weniger gut Gelaunten zugute: Bitten sie andere um etwas, tun sie das umsichtiger und haben damit die grösseren Chancen auf Erfolg.
Die Balance ist wichtig
Unerschütterliche Optimisten sind häufig unkritisch und glauben Anderen bedenkenlos. Psychologen sprechen von der «kognitiven Leichtigkeit»: Im beschwingten Zustand fällt einem Vieles leicht – etwa bedingungslos zu akzeptieren, was jemand sagt. Pessimisten dagegen sind skeptischer und strenger zu sich selbst und ihrem Umfeld.
Eine temporäre Verstimmung sollte man also nicht vorschnell verteufeln. Wer ab und zu nicht bester Laune ist, braucht sich keine Sorgen zu machen. Psychologen fanden diese positiven Effekte aber nur bei Menschen, die kurzzeitig betrübt waren. Generell schliesst Joseph Forgas aus seinen Ergebnissen, dass eine Balance zwischen positiver und negativer Einstellung gesünder ist als übertriebener Optimismus.