Was macht Kinder stark?

Vielleicht haben Sie schon ähnliche Szenen beobachtet: Eine Mutter steht mit ihrem Kind an der Supermarktkasse an. Plötzlich fordert das Kind lautstark einen Schokoriegel aus dem Regal. Als die Mutter ihm den Wunsch abschlägt, beginnt das Kind mit seinen Fäusten auf sie einzuschlagen. Um nicht noch mehr Aufsehen zu erregen, gibt die Mutter schnell nach und legt die geforderte Schokolade in den Einkaufskorb. Als Beobachter einer solchen Szene schaut man vielleicht etwas ungläubig oder hat Mitleid mit der Mutter. Und es taucht die Frage auf: Was läuft hier schief?
Die Mutter setzt sich nicht durch, weist das Kind nicht zurecht. Man kann ihr dies nicht verübeln, sie will alles richtig machen, ihr Kind stärken. Haben doch Psychologen und prominente Erzieher jahrelang gepredigt, dass man das Selbstbewusstsein von Kindern fördern muss. Darin sah man den Schlüssel zum Erfolg: Laut Studien erzielten selbstbewusste Kinder besse- re Schulnoten als jene, deren Selbstwertgefühl tief war. Psychotherapeut
Daniel Brandon liess in den 1990er Jahren verlauten, dass es kein psychi- sches Problem gäbe, das nicht auf mangelndes Selbstbewusstsein zurückzuführen sei – weder Angst, Depres- sion, häusliche Gewalt noch Kindsmissbrauch. Auch andere Psychologen und Therapeuten führten fast jedes gesellschaftliche Problem auf fehlende Eigenliebe zurück. Es entstand eine regelrechte Bewegung: Um die Kinder selbstbewusst zu machen, fingen Eltern an, grundsätzlich alles zu loben. Auch Lehrer sprangen auf den Zug auf: Im Schulsport bekamen plötzlich alle Kinder einen Preis – nicht nur die Sieger.
Doch es zeigte sich, dass immer nur loben nicht das brachte, was erwartet wurde. Neuere Studien offenbaren: Nicht das Selbstbewusstsein führt zu guten Noten, sondern gute Noten bringen Selbstbewusstsein. Wer sein Selbstwertgefühl aus übertriebenem Lob bezieht, ergreift zwar öfter die Initiative als andere, doch überspitztes Selbstbewusstsein hat für das Umfeld oft auch unliebsame Nebenwirkungen wie Arroganz, Eitelkeit oder gar Narzissmus. Studien zeigen, dass diese Menschen oft einfach das Interesse verlieren, wenn sie auf Hindernisse stossen – nach dem Motto: Wenn andere meine Aussergewöhnlichkeit nicht erkennen, ist ihnen nicht zu helfen. Wer immer eingetrichtert bekommt, er sei grossartig, hat keinen Grund, sich anzustrengen. Verstehen wir das als Stärke?
Gute Selbstkontrolle hilft im späteren Leben
Sozialpsychologe Roy Baumeister sieht den Schlüssel zum Erfolg in Disziplin und Selbstkontrolle. Ein hohes Selbstwertgefühl bringe nur wenig, Selbstkontrolle dagegen mache Kinder im späteren Leben stark. Leute mit viel Selbstkontrolle sind insgesamt glücklicher als andere: Sie führen im Schnitt bessere und längere Beziehungen als Menschen, die sich weniger im Griff haben, werden mehr gemocht und anerkannt, sind weniger gestresst, anpassungsfähiger und we- niger beratungsresistent. Sie begehen weniger Verbrechen, haben weniger physische und psychische Probleme und überwinden Vorurteile besser. Und sie leben länger.
Doch wie kommen Kinder zu Selbst- kontrolle? Disziplin hat oft einen negativen Beigeschmack, viele Men- schen verbinden sie mit harter Stra- fe. Früher wurde Kindern Disziplin eingeprügelt – einen solchen Rückfall will Baumeister keinesfalls propagie- ren. Aber er ist der Meinung, dass Eltern ihre disziplinierende Rolle wiederentdecken müssen. In seinem Buch «Die Macht der Disziplin» schreibt er: «Es geht nicht darum, zornig zu werden und drakonische Strafen zu verhängen. Es geht vielmehr darum, sich die Zeit zu nehmen, das Verhalten des Kindes zu beobachten und angemessene Belohnungen und Bestrafungen zu finden.»
Strafe: nicht hart, aber konsequent
Eine Strafe hat gemäss Roy Baumeister und John Tierney drei Komponenten: Härte, Schnelligkeit und Konsequenz. Dabei ist die Härte am unwichtigsten; sie bringt wenig und kann sogar kontraproduktiv sein – sie zeigt dem Kind, dass das Leben grausam und Aggression ein angemessenes Verhalten ist. Wichtiger ist die Geschwindigkeit. Warten Eltern zu lange mit der Bestrafung, verknüpfen die Kinder diese gar nicht mehr mit ihrem Fehlverhalten. Am bedeutendsten und für die Eltern gleichzeitig am härtesten ist die Konsequenz: Es ist viel einfacher, Fehlverhalten zu übersehen und ein Auge zuzudrücken, wenn man grad nicht in Stimmung ist, sein Kind zu tadeln. Doch Kinder brauchen und wollen klare Regeln: Bestrafen Eltern ein Fehlverhalten einmal und ein andermal nicht, verwirrt dies vor allem. Damit Eltern Kindern Disziplin beibringen können, müssen sie also zuerst sich selbst disziplinieren – in gemeinsamer Absprache, mit klaren Zielen und Regeln.
Für die Selbstkontrolle des Kindes müssen Eltern aber nicht nur strafen, sondern auch belohnen. Eltern können ihre Kinder durchaus verwöhnen, allerdings nur, wenn die Kinder etwas dafür tun. Als wirksam nennt Roy Baumeister die verzögerte Belohnung oder den Aufschub von Befriedigung – dies schafft viel Selbstkontrolle. Eltern können Belohnungen mit bestimmten Leistungen des Kindes verknüpfen – räumt das Kind beispielsweise jeden Tag sein Zimmer auf, bekommt es Ende der Woche etwas. Mit solchen Methoden stärken Eltern die Selbst- kontrolle und das Selbstwertgefühl des Kindes: Denn ein gesundes Selbst- bewusstsein stammt aus dem Gefühl, etwas geleistet zu haben und nicht da- raus, dass andere grundlos loben.