Haltung bitte!

«Hier ist ein Marshmallow für dich. Entweder du isst ihn jetzt, oder du wartest und bekommst einen zweiten, wenn ich zurückkomme.» In zahlreichen youtube-Videos* können wir beobachten, wie Kinder reagieren, wenn sie mit dieser Auflage einen Marshmallow vor die Nase gesetzt bekommen: Einige riechen, betasten oder lecken den Marshmallow, andere schauen konzentriert weg. Wir sehen gequälte Gesichter, unruhiges Gezappel, krampfhafte Versuche, sich zu kontrollieren. Nicht alle Kinder haben genug Selbstbeherrschung und Willenskraft, dem Marshmallow zu widerstehen.
Viele Jahre nachdem dieses Experiment in den 1960er Jahren erstmals durchgeführt wurde, entdeckte sein Erfinder Walter Mischel, dass das beobachtete Verhalten weit mehr über die Kinder aussagte, als er vermutet hätte: Jene, die den Marshmallow sofort verschlungen hatten, schrieben in der Schule schlechtere Noten als die anderen. Damit nicht genug: Die geduldigen Kinder fanden sich als Erwachsene eher in einer stabilen Partnerschaft, verdienten mehr Geld und lebten gesünder als die ungeduldigen. Bei den Ungeduldigen hingegen war Drogenmissbrauch, Studienabbruch oder Gefängnisstrafe häufiger. Das Fazit: Die Selbstbeherrschung oder die Willenskraft eines Menschen wirkt sich auf alle möglichen Bereiche des Lebens aus.
«Muskel» Willenskraft
Der Sozialpsychologe Roy Baumeister vergleicht die Willenskraft mit einem Muskel. In einem seiner Experimente schickt er Studenten in einen Raum mit köstlich duftenden Keksen, nötigt sie aber, die Radieschen daneben zu essen und die Kekse nicht anzurühren. Danach müssen sich die Studen- ten an einer unlösbaren Aufgabe versuchen, wobei sich zeigt: Sie geben viel früher auf als ihre Kollegen, welchen vorher erlaubt worden ist, die Kekse zu essen. Die Radieschen-Esser haben ihre Selbstkontrolle aufgebraucht, bei den anderen war der «Selbstkontrolle-Speicher» noch voll. Je mehr unsere Willenskraft beansprucht wird, desto eher werden wir träge und erschöpft – der «Willenskraft-Muskel» ermüdet.
Der Alltag fordert unsere Willenskraft ständig, immer wieder müssen wir uns zusammenreissen: Der Figur zuliebe verzichten wir auf das Tortenstück in der Vitrine, unser Budget strapazieren wir nicht mit dem Kauf der schönen Bluse, unserer Gesundheit zuliebe entsagen wir dem Glas Grappa nach dem Essen – bis wir irgendwann schlapp machen und ei- nem Reiz nachgeben. Wie schnell wir «schlapp machen», können wir beeinflussen – der «Willenskraft-Muskel» lässt sich trainieren.
Training der Willenskraft
Mit trainierter Willenskraft widerste- hen wir den Reizen länger und haben mehr Energie für andere Aufgaben. Doch wie trainieren wir dies aktiv und nachhaltig? Indem wir gewohnte Tätigkeiten anders als sonst verrichten: Wer immer gekrümmt sitzt, kann die Willenskraft trainieren, indem er bewusst gerade sitzt. Oder wir verwenden eine andere Hand als gewohnt: Rechtshänder können sich beispiels- weise mit links die Zähne putzen, mit links die Türe öffnen oder die Tasse heben. Wenn wir eine Aufgabe anders lösen als sonst, müssen wir Selbstdisziplin aufbringen. Studien zeigen: Das Training der Selbstdisziplin wirkt sich auf alle anderen Lebensbereiche aus. Ein Beispiel: Menschen, die bisher kaum Sport trieben und nun einem Trainingsplan folgten, steigerten nicht nur ihre Fitness, sondern disziplinierten und verbesserten sich auch auf anderen Gebieten – ohne es zu merken. Ihre Willenskraft wurde insgesamt stärker und vor allem ausdauernder. Bereits mit kleinen Übungen stärken wir die gesamte Willenskraft – das einzige, was wir benötigen, ist die Motivation dazu.