Illusionen: Wie wir uns selbst manipulieren

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Dass uns die Werbung mit allen erdenklichen Mitteln zu manipulieren versucht, ist bekannt. Dieses Wissen, so glauben viele, mache sie immun gegen die Verführungen der Werbebranche. Doch das Gegenteil ist der Fall! Friedhelm Decher, Autor des Buches «Die rosarote Brille: Warum unsere Wahrnehmung von der Welt trügt», nennt das die «Illusion der Unverwundbarkeit». Gerade wer sich unverwundbar fühlt, fällt auf sogenannte «Experten» im Fernsehen herein.

Andere Studien haben etwa gezeigt, dass Menschen der westlichen Welt ihre eigene Lebensdauer ungefähr neun Jahre höher einschätzen als die von anderen – auch wenn sie vorher darüber informiert wurden, wie hoch ihre statistische Lebenserwartung ist. Die Mehrheit der Raucher meint ausserdem, ihr Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken, sei kleiner als das von anderen Rauchern. Und obwohl die Scheidungsrate in den USA bei 50 Prozent liegt, glaubt jeder, es werde jemand anderen treffen. Das Wissen um die Tatsachen ändert also rein gar nichts an der Beurteilung der eigenen Situation. Menschen, denen man die Realität vor Augen hält, ändern daraufhin nicht etwa ihre Meinung. Im Gegenteil: Sie suchen nach Gründen, um sich zu rechtfertigen; sie rationalisieren ihre falsche Überzeugung.

Die kognitive Dissonanz
Ein möglicher Grund dafür ist die sogenannte «kognitive Dissonanz». Sie entsteht, wenn unser Denken und unser Handeln nicht übereinstimmen. Das äussert sich in einem Gefühl der inneren Spannung und Unruhe. Ein Beispiel: Die meisten Raucher wissen, wie gefährlich das Laster für ihre Gesundheit ist. Am naheliegendsten wäre es deshalb, mit dem Rauchen aufzuhören. Doch das ist leichter gesagt als getan. Deshalb brauchen sie andere Strategien, um die innere Spannung auszuhalten. Sie rationalisieren das Rauchen mit Sätzen wie: «Ich kenne Leute, die sind an Lungenkrebs gestorben, ohne einmal eine Zigarette in der Hand gehabt zu haben» oder «Mein Grossvater wurde über 90, obwohl er sein Leben lang geraucht hat».

Dieselbe innere Unruhe führt übrigens dazu, dass wir Dinge kaufen, die wir nicht brauchen, und Versicherungen abschliessen, die uns nicht entsprechen: Weil die Verkäuferin und der Versicherungsvertreter sich so viel Zeit genommen haben, um uns zu beraten, entsteht ein Pflichtgefühl – man möchte ihnen etwas zurückgeben.

Täuschungen des Gehirns
Auch unser eigenes Gedächtnis manipuliert uns, ohne dass wir etwas merken. So geschehen bei einer flammenden Rede des US-Präsidenten Ronald Reagan, der unter Tränen von seiner Zeit im Krieg erzählte – wobei seine Geschichte stark einer Szene aus dem Film A Wing and a Prayer von 1944 ähnelte. Wie ist das möglich? Der ehemalige Präsident hat nicht etwa gelogen – sein Gedächtnis hat ihm einen Streich gespielt. Die Gedächtnisforschung nennt das «Quellenamnesie»: Man erinnert sich nicht mehr an die Quelle eines Ereignisses. So wird die Erzählung eines Freundes plötzlich zur eigenen Idee, und eine Szene aus einem Film zum selbst Erlebten.

Es gibt allerdings gute Gründe, warum unser Gedächtnis fremde Erlebnisse zu eigenen macht und sich sogar an Dinge erinnert, die wir überhaupt nicht erlebt haben können. Erinnerungen sind nämlich nicht dazu da, das Vergangene exakt zu rekapitulieren, sondern um Positives daraus zu ziehen für Herausforderungen, die in der Gegenwart anstehen. Demnach entscheidet das Hier und Jetzt, woran wir uns zu erinnern glauben. Ungeeignete und negative Momente werden aussortiert. Diese «narrative Inversion» führt dazu, dass unser Gehirn sich seine Lebensgeschichte selbst zusammenstrickt – und zwar so, dass sie uns bei den Anforderungen der Gegenwart etwas nützt. Damit wird das Selbst stabilisiert und gestärkt. So gesehen macht die «narrative Inversion» Sinn, meint der Sozialpsychologe Harald Welzer. Menschen können zum Beispiel nur Gutes tun, wenn sie sich dazu befähigt fühlen. Und das tun sie, wenn sie ihre Erinnerungen positiv interpretieren, um sich bestärkt zu fühlen. Bloss wer sich als gut versteht, kann Gutes tun.

Selbsttäuschungen haben also sehr wohl ihre Funktion: Das gesteigerte Selbstvertrauen führt dazu, dass wir uns allgemein wohler fühlen und Belastungen besser standhalten können. Es motiviert uns, bei Herausforderungen durchzuhalten und neuen Erfahrungen nicht allzu ängstlich gegenüber zu stehen. Es gilt aber, die goldene Mitte zu finden zwischen übertriebenem Selbstvertrauen und schonungslosem Realismus. Nur so lässt sich vermeiden, dass die harte Realität einen einholt.

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