«Für mich ist der Schlaf ein Wunderwerk»

Dieser Artikel stammt aus unserem Spendermagazin «das Gehirn». Unsere Zeitschrift «das Gehirn» erscheint viermal im Jahr und ist für Spenderinnen und Spender der Schweizerischen Hirnliga kostenlos. Lesen Sie weitere spannende Beiträge, indem Sie hier ein Probeexemplar bestellen.
 

Prof. Dr. Anita Lüthi engagiert sich seit Anfang 2023 neu im Vorstand der Schweizerischen Hirnliga. Für «das Gehirn» erzählt sie von den überraschendsten Ergebnissen ihrer Schlafforschung und gibt ganz konkrete Tipps, um das Gehirn leistungsfähig zu halten.


Frau Lüthi, seit Januar 2023 sind Sie gewähltes Mitglied im Vorstand der Schweizerischen Hirnliga. Die Mitglieder des Vorstands arbeiten ehrenamtlich und stellen ihre Expertise für Anfragen der Medien und Bevölkerung zur Verfügung. Zudem beschliessen sie über die Vergabe unserer Fördermittel für die Wissenschaft. Wir freuen uns sehr, Sie willkommen zu heissen, und danken Ihnen für Ihr Engagement! Was hat Sie dazu bewogen, sich bei uns zu engagieren?
Ich kenne die Hirnliga seit vielen Jahren. Ich weiss, dass sie von Beginn an von namhaften Forscherinnen und Wissenschaftlern getragen wurde, und ich sehe ihre Bedeutung in der Wissenschaftskommunikation unserer Forschung gegenüber der Öffentlichkeit. Mich beschäftigt das schon lange: Wie können wir die Forschung, an der wir für uns in unseren Labors und Büros arbeiten, der breiten Bevölkerung zugänglich machen? Ein Organ wie die Hirnliga ist dafür ideal.

Sie arbeiten als Neurobiologin an der Universität Lausanne. Die meisten unserer Vorstandsmitglieder sind nicht Neurobiologen, sondern Neurologen – was ist eigentlich der Unterschied?
Die Gemeinsamkeit ist das Interesse am zentralen Nervensystem – insbesondere dem Gehirn – und an den Krankheiten, die dort auftreten können. Neurobiologinnen und -biologen haben eine naturwissenschaftliche Ausbildung und untersuchen das Gehirn mit naturwissenschaftlichen Methoden. Neurologinnen und Neurologen haben einen medizinischen Hintergrund und führen mehrheitlich Untersuchungen am Menschen durch.

Einer Ihrer Forschungsschwerpunkte ist der Schlaf. Unter anderem untersuchen Sie die Aktivität des Gehirns beim Schlafen. Sie vermuten, dass man daraus Schlüsse für die Diagnose von Hirnerkrankungen ziehen kann. Welche Hirnkrankheiten möchten Sie so diagnostizieren?
Mich interessiert insbesondere, wie der Schlaf etwas aussagen kann über neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson. Beispielsweise gibt es bei Parkinson-Patienten schon relativ früh Störungen im REM-Schlaf, schon vor den offensichtlichen motorischen Schwierigkeiten, die diese Krankheit auslöst. Ich finde es sehr interessant, den Schlaf als Diagnosemittel nutzen zu können. Und es gibt umgekehrt Zusammenhänge zwischen der Schlafqualität und dem Verlauf neurodegenerativer Krankheiten wie Alzheimer. Je genauer man den Schlaf und seine teils subtilen Veränderungen versteht, desto früher sollte es möglich sein, Aussagen über sich anbahnende neurodegenerative Krankheiten zu machen. Diesen Zusammenhang besser zu verstehen, ist eine zentrale Frage meiner Forschung.

Merkt man als Laie solche Veränderung der Gehirnströme im Schlaf bei einer Hirnerkrankung? Schläft man weniger tief, ist man weniger erholt?
Wenn jemand uns sagt, der Schlaf sei nicht erholsam, dann ist es für uns Grund zur Sorge. Das kann einerseits sein, weil man häufiger erwacht, als man bewusst wahrnimmt. Andererseits kann es auch sein, dass bestimmte Schlafstadien nicht mehr ausgeglichen sind. Das spürt man selbst, kann man aber erst durch eine Polysomnografie messen und quantifizieren.

Gibt es ein besonders spannendes, überraschendes Forschungsergebnis, von dem Sie uns berichten können?
Was mich immer fasziniert hatte, ist das Paradox, dass man einerseits während des Schlafs «abwesend » ist, andererseits aber doch in gewisser Weise aufmerksam bleibt. Wenn nachts jemand bei uns einbricht, wachen wir eher auf als beim alltäglichen Strassenlärm. Diesen Widerspruch haben wir untersucht. Das Setting war einfach. Wir schauten, in welchen Momenten ihres Tiefschlafs Mäuse eher aufwachen, in welchen eher nicht. Dabei haben wir die Hirnströme gemessen. Es zeigte sich: Die Aufweckraten schwankten deutlich, und zwar so, dass sie innerhalb 50 Sekunden zwischen hohen und tiefen Werten abwechselten. In genau diesem 50-Sekunden-Abstand konnten wir eine spezielle Schlafwelle messen, die man vorher so noch nicht beschrieben hatte und die diese Aufweckbarkeit vorhersagte. Sie ist auch beim Menschen messbar. Inzwischen wissen wir: Diese Welle lässt das Gehirn mitten im Tiefschlaf regelmässig etwas näher an den Wachzustand geraten. So verbinden wir die Abwesenheit im Schlaf mit einer regelmässigen kurzen Kontrolle der Umwelt. Bei vielen Schlafstörungen scheint dieser 50-Sekunden-Rhythmus eine Rolle zu spielen – auch bei uns Menschen.

Haben Sie aus Ihrer Perspektive als Neurobiologin einen Geheimtipp für einen guten, gesunden Schlaf?
Für mich ist der Schlaf ein Wunderwerk. Man verändert das Bewusstsein, merkt nicht mehr viel von seiner Umgebung und ist am nächsten Tag erholt. In dieser inaktiven Zeit passiert mehr, als man lange dachte. Grosser Respekt vor diesem Zustand ist aus meiner Sicht eine gute Voraussetzung für guten Schlaf. Er führt dazu, dass man Massnahmen der Schlafhygiene ernst nimmt. Für mich ist auch Bewegung sehr wichtig, und ich achte darauf, abends weniger zu essen. Es gibt gute Hinweise darauf, dass es den Erholungseffekt des Schlafes negativ beeinflusst, wenn man mit vollem Bauch schlafen geht.

Die Schweizerische Hirnliga setzt sich für die Aufklärung der Bevölkerung, aber auch für die neurowissenschaftliche Forschung ein. In welchen Bereichen der Neurobiologie sehen Sie besonders grossen Forschungsbedarf?
Ich wüsste keinen Bereich der Neurobiologie, in dem der Forschungsbedarf nicht gross ist: das Gehirn ist das am wenigsten verstandene Organ, viele zentralen Fragen zu seiner Funktionsweise und seinen zahlreichen Erkrankungen sind unbeantwortet. Persönlich bringe ich den Schlaf als Thema in die Hirnliga ein. Nicht einmal zur zentralen Frage, warum wir schlafen, findet sich in den Lehrbüchern eine eindeutige Antwort. Der Forschungsbedarf ist riesig und es gibt vielversprechende Möglichkeiten, den Zusammenhang von Schlaf und verschiedenen neurologischen Erkrankungen auf einer so detaillierten Ebene zu verstehen, dass sich langfristig neue, insbesondere auch nicht-invasive, Diagnose- und Therapiemöglichkeiten ergeben.

Was waren die wichtigsten Innovationen der letzten Jahre, und was denken – oder hoffen – Sie, könnte die nächste Innovation der Neurologie oder Neurobiologie werden?
Seit Jahrzehnten untersucht man Demenz. Sie ist schlecht behandelbar. Viele Behandlungsmethoden sind gescheitert. Wenn sich die Krankheit so deutlich manifestiert, dass sie heute bemerkt wird, ist es oft schon zu spät. Degenerative Prozesse geschehen schon viel früher im Gehirn. Ich glaube, dass Methoden zur Frühdiagnose in Zukunft wichtig werden und grosses Therapiepotential bergen.

Wofür interessieren Sie sich im Privatleben? Haben Sie überhaupt Zeit für Hobbies?
Neben meinem Beruf bin ich auch Musikerin. Ich habe ein Diplom als Flötistin gemacht und spiele viel. Früher war ich im Schweizerischen Jugend- Symphonieorchester und in vielen Ensembles. Jetzt ist es im familiären Rahmen oder mit Freunden. Ansonsten mache ich viel im Garten und interessiere mich dafür, möglichst viele einheimische Wildpflanzenarten wachsen zu lassen. Und – obwohl das natürlich kein Hobby ist (lacht) – ich habe einen 20-jährigen Sohn und einen in einem anderen Wissenschaftsgebiet aktiven Ehemann. Ich wüsste nicht, wie ich als Wissenschaftlerin ohne ein reiches Privatleben aktiv sein könnte.

Was tun Sie, um Ihr Gehirn fit zu halten?
Hauptsächlich ist das meine anspruchsvolle Arbeit. Ich stelle fest, dass diese Arbeit auch über die fachliche Expertise hinaus zu gewissen Fähigkeiten führt, beispielsweise weiss ich bei sehr vielen wissenschaftlichen Autorinnen und Autoren, welche Werke sie geschrieben haben. Das ist gedächtnistechnisch anspruchsvoll. Wenn es dann aber darum geht, Jahreszahlen oder Vokabular einer Fremdsprache abzurufen, tue ich mir schwerer. Hier versuche ich gezielt dagegenzuhalten. Ich lerne gerne neue Sprachen, derzeit Ukrainisch. Man braucht dazu ein ganz neues Gedächtnis für ungewöhnliche Wörter und Klänge, das finde ich spannend und es tut mir gut. Oder ich lese Geschichtsbücher oder versuche, meine Körperwahrnehmung anzuregen, beispielsweise mit Yoga.

Welche allgemeinen Tipps können Sie unseren Leserinnen und Lesern mitgeben, um das Gehirn gesund zu halten?
Ich empfehle, regelmässig Dinge aus dem Gedächtnis abzurufen und zu reaktivieren. Das Gedächtnis ist kein Speicher, den man nur zu füllen braucht, damit man dann darauf zugreifen kann. Die grösste Herausforderung ist es, das Gelernte gezielt abzurufen. Sie kennen es sicher auch: Man weiss, dass man etwas weiss, kommt aber nicht drauf. Dieser Prozess des Abrufs kann trainiert werden. Konkret ist das beispielsweise möglich, indem man alte Hobbies oder Interessen wieder aufgreift: Überlegen Sie, was Sie lange nicht abgerufen haben. Vielleicht ein historisches Thema, das Sie eine Zeitlang beschäftig hat? Überlegen Sie, was Sie noch darüber wissen. Oder haben Sie vor 10 Jahren eine Sprache gelernt und nicht mehr viel gebraucht? Versuchen Sie, sich an möglichst viele Wörter zu erinnern. So wird der Abruf des Gedächtnisses gezielt gefördert.

Prof. Dr. Anita Lüthi
Nach ihrer Promotion an der Universität Zürich forschte Anita Lüthi als Postdoktorandin an der Yale University darüber, wie neuronale Schaltkreise spontan rhythmische Aktivität erzeugen. Zurück in Lausanne als ausserordentliche Professorin geht sie der Frage nach, inwiefern die vom schlafenden Gehirn erzeugten neuronalen Muster für die Diagnose von Hirnerkrankungen immer wichtiger werden. Und sie interessiert sich dafür, wie Schlaffunktionen aus koordinierten Interaktionen von Nervenzellverbänden entstehen.

Das Gehirn ist unser wichtigstes Organ. Und doch wissen wir nur wenig darüber.

Die Schweizerische Hirnliga unterstützt die neurobiologische Forschung in der Schweiz und liefert der Bevölkerung Tipps für ein gesundes Gehirn.

Wir werden vollumfänglich von privaten Spenden getragen. Fördern auch Sie die Hirnforschung in der Schweiz.

Jetzt spenden

Woche des Gehirns 2024


Die Woche des Gehirns findet vom 
11. bis 16. März 2024 statt.

Mehr

Magazin «das Gehirn»

Unsere Zeitschrift «das Gehirn» erscheint viermal im Jahr und ist für Spenderinnen und Spender der Schweizerischen Hirnliga kostenlos. Bestellen Sie jetzt ein Probeexemplar.

Mehr

Wir verwenden Cookies und Analysetools, um Ihnen den bestmöglichen Service zu gewährleisten. Indem Sie auf der Seite weitersurfen, stimmen Sie der Verwendung von Cookies und Analysetools zu. Weitere Informationen finden Sie in unseren Datenschutzbestimmungen ».

Ich stimme zu

Nous utilisons des cookies et des outils d’analyse dans le but de vous garantir le meilleur service possible. En continuant de surfer sur notre site, vous donnez votre consentement à l’utilisation de cookies et d’outils d’analyse. Veuillez consulter no dispositions relatives à la protection des données » pour de plus amples informations.

J’accepte